Naho Matsuda
Die Blätter des Maulbeerbaums
Herbst 2025

Prozessorientiert und meist partizipativ angelegt, untersucht das multimediale Werk von Naho Matsuda die komplexen Interaktionen zwischen Menschlichem und Nicht-Menschlichem.
Im Rahmen ihrer Teilnahme am Programm „Borderland Residency“ vom Kulturraum Niederrhein e.V., verbringt die Künstlerin mehrere Wochen in Willich und Krefeld und beabsichtigt zunächst, eine bereits entwickelte Werkserie fortzuführen. Doch kommt es vor Ort anders.

Die ursprüngliche Werkserie konzentrierte sich zwar bereits auf textile Materialien, hatte aber einen völlig anderen Ausgangs- und vor allem einen anderen Schwerpunkt als das Projekt, das Matsuda schließlich in Krefeld realisieren wird. Als sie im Herbst 2025 am Niederrhein ankommt, taucht sie zunächst in die Stadtgeschichte ein. Als deutsch-japanische Künstlerin, die die Differenzen ihrer doppelten nationalen Identität in ihrem Werk fruchtbar einsetzt und Fragen des Kulturtransfers explizit behandelt, wecken die kulturhistorischen Hintergründe der Seidenproduktion besonders ihr Interesse.

Denn wenn man an Krefeld denkt, denkt man (übrigens: immer weniger) an Seide – und wer Seide sagt, müsste eigentlich auch den Maulbeerbaum nennen. Ohne seine Blätter gäbe es keine Seidenraupe, und ohne die Seidenraupe keine Seide. Überspitzt formuliert, ist der Maulbeerbaum also so etwas wie der stille Ursprung der modernen Krefelder Identität – die Wurzel der „Seidenstadt“.
Im 18. Jahrhundert ließ man auch in Krefeld Maulbeerbäume pflanzen – als Teil jener großen europäischen Träume, die Seidenproduktion endlich unabhängig vom asiatischen Import zu machen. Nicht viel anders als heute war die Rohstoff-Unabhängigkeit vom Ausland essenziell, um die ökonomische Souveränität der Region zu gewährleisten. In diesen Blättern steckte Hoffnung auf Wohlstand, auf Selbstversorgung, auf kulturelle Blüte.
Die Hoffnung währte aber nicht lange. Die Seidenraupen litten unter den klimatischen Verhältnissen und eine rheinische Seidenproduktion ließ sich nicht langfristig etablieren.

Ausgehend von dieser Geschichte des Scheiterns recherchiert Naho Matsuda über die aktuellen Standorte von Maulbeerbäumen. Sie kartografiert die Stellen, wo neuere Exemplare gepflanzt wurden und besucht sie. Dieser konzeptuelle Faden führt sie zur Vergangenheit Krefelds und zur Feststellung , dass diese Stadtgeschichte nicht mehr sichtbar ist.

Der berühmte Claim ("Krefeld, die Samt- und Seidenstadt") ist keine spürbare Realität für die heutige Krefelder Bevölkerung - auch im 19. Jahrhundert wurden Textilien, vor allem Seide, aufgrund ihres hohen Preises wenig von ihren Erzeuger*innen konsumiert .

Matsuda spricht mit lokalen Experten aus dem Gartenamt, mit einzelnen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft vor Ort, recherchiert weiter und entwirrt nach und nach den kulturhistorischen Knäuel, der sich um den Maulbeerbaum gebildet hat. Sie findet heraus, dass seinen Beeren nicht für eine industrielle Produktion geeignet sind. Weil sie schwer zu pflücken sind, werden sie regelrecht hängen gelassen und nur von bestimmten Kulturgruppen gegessen, die eine traditionnelle Verbindung dazu haben. In der Türkei werden sie zu Marmelade verarbeitet, im Iran werden die getrocknete Früchte gegessen, in Japan werden die Blätter als Tee getrunken. In Deutschland werden die Blätter als Fütterung der Tiere im Zoo verwendet.

Die Geschichte des Maulbeerbaums und seiner gescheiterten Akklimatisierung in Krefeld wird zu einer Metapher der historischen Wandlung der Stadt - und zum versteckten Sinnbild der Globalisierung. Ein Baum wurde vor drei Jahrhunderten aus seiner Ökosphäre herausgerissen und in neuen Breitengraden implantiert. Die zugewanderten Bevölkerungsgruppen, die heute am Niederrhein leben, und sich genauso entwurzelt fühlen dürften wie die exotischen Gewächse von damals, machen aktiv etwas aus den Früchten und Blättern des Maulbeerbaums; sie halten seine kulturelle Nutzung am Leben. Die Raupen haben es nicht überlebt, nun bestimmt der Baum das grüne Stadtbild mit.
In dieser Geschichte kristallisiert sich die Dynamik der Migration, des transkulturellen Austauschs und vor allem der Missverständnisse und Unwägbarkeiten, die mit solchen Transfers einhergehen.

Und die Geschichte der Auseinandersetzung von Naho Matsuda mit der biologisch-kulturellen Präsenz des Maulbeerbaums am Niederrhein ist nicht zuende. Auch nach dem Stipendium und der ersten Recherchearbeit, soll die Feldforschung fortgesetzt werden. Nach ihrer großen Planänderung - und das Sich-Einlassen auf eine völlig neuen Thematik - plant Matsuda weitere Arbeiten zu diesem Themenbereich und möchte sie im April 2026 in Krefeld präsentieren. Was, wo und wie diese Weiterentwicklung sein wird, ist noch offen.
Das verstehen wir unter dem Begriff "prozessorientierte Kunst".

Auszug aus der Einführung von Emmanuel Mir
"... Doch als sie begann, Archive zu durchforsten – vor allem die des Kaiser-Wilhelm-Museums und des Deutschen Textilmuseums – und damit immer tiefer in die textile Geschichte der Stadt einzutauchen, merkte sie, dass ihre Pläne eine grundsätzliche Neuausrichtung verdienten. Und so ließ Naho ihre alten Ideen zunächst ruhen und stellte sich ganz auf die Ergebnisoffenheit ein, die ein solches prozessorientiertes Denken erfordert.
Denn künstlerische Arbeit ist kein geradliniger Weg von der Idee zum Ergebnis, sondern ein lebendiger Prozess – ein System aus Versuch und Irrtum, aus Neugier, Widerstand und Anpassung. Sie entsteht im Tun, nicht im Plan. Jeder Schritt verändert den nächsten, jede Entscheidung wirft neue Fragen auf. Und manchmal liegt gerade in der Abweichung, im Misslingen oder im Zufall die eigentliche Erkenntnis.
Was zählt, ist nicht nur das Produkt, sondern das Denken in Bewegung: das offene Erkunden dessen, was möglich ist. Kunst entsteht dort, wo der Prozess selbst zum Erkenntnisraum wird – wo die Handlung nicht bloß Mittel zum Zweck, sondern Teil des Sinns ist. In diesem Sinn sind Umwege keine Ablenkungen, sondern Erweiterungen: Sie führen dorthin, wo man ursprünglich gar nicht hinwollte, aber vielleicht hingehörte.
Eine Chance zu ergreifen, wenn sie sich bietet, ist keine Selbst-verständlichkeit. Es ist nicht einmal leicht. Es braucht Mut, eine Chance als solche zu erkennen – und ihr den Raum zu geben, den sie verlangt. Als Naho die halbwegs bekannten Pfade ihrer bisherigen Arbeit, und damit ihre Komfortzone, verließ, um sich auf eine neue Produktion mit unklarem Ausgang und offenen Enden einzulassen, bewies sie eben diesen Mut. Anstatt ihr Werk den neuen Bedingungen anzupassen, begann sie, das Material selbst neu zu befragen – und öffnete so einen Raum, in dem Kunst nicht das Ergebnis, sondern der Prozess ist..."

Zur Künstlerin
Naho Matsuda (DE/JP) lebt und arbeitet zwischen München, Nettetal und London. Ihr Werk untersucht verschiedene Formen von Sprachen und Kommunikationsweisen und befasst sich mit alltäglichen Machtstrukturen. Sie arbeitet prozessorientiert und ortsspezifisch und bezieht dabei oft die lokale Bevölkerung und die „übermenschliche“ Umgebung mit ein. Ihre Arbeiten werden in eine Vielzahl von Medien und Materialien umgesetzt: von Zeichnungen, Drucken und Websites bis hin zu Videoarbeiten, Installationen und Performances.
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